Intervju ministra Grlića Radmana za Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Die Glaubwürdigkeit der europäischen Perspektive steht auf dem Spiel“

Kroatiens Auszligenminister Gordan Grlić Radman uumlber die nahende Ratspraumlsidentschaft des Landes und das kuumlnftige Verhaumlltnis der EU zum Balkan

Herr Minister, Kroatien ist das juumlngste EU-Mitglied, und nicht erst seit Frankreich den Beginn von Beitrittsgespraumlchen mit Nordmazedonien verhinderte, sieht es so aus, als werde es das fuumlr lange Zeit bleiben. Was bedeutet es fuumlr Kroatien, wenn die Staaten in der Nachbarschaft nicht der EU beitreten koumlnnen?

Aus unserer Sicht ist es ein strategisches Interesse der EU ebenso wie Kroatiens, dass die Staaten Suumldosteuropas vollwertige EU-Mitglieder werden. Kroatien war einst Teil Jugoslawiens, eines Staates, der auf einer Idee beruhte, die zwar nach dem Ersten Weltkrieg naheliegend schien, die aber von Beginn an falsch war und nie eine Uumlberlebenschance hatte. Es ist viel besser, friedlich als Nachbarn zusammenzuleben, statt im Streit vereint zu bleiben. Kroatien und Slowenien gelang es als ersten Teilrepubliken Jugoslawiens, international anerkannt zu werden und danach sowohl der Nato als auch der EU beizutreten. Damit hatten wir die wichtigsten auszligenpolitischen Ziele nach unserer Unabhaumlngigkeit erreicht ndash naumlmlich Teil des Westens zu sein. Doch auch jetzt sind wir an bestmoumlglichen Beziehungen zu unseren direkten Nachbarn Bosnien-Hercegovina und Serbien interessiert. Nicht zuletzt, weil in Serbien eine kroatische Minderheit lebt und in Bosnien-Hercegovina die Kroaten sogar eines von drei konstitutiven Voumllkern stellen.

Aber diese Kroaten leben auszligerhalb der EU. Gilt das bisherige europaumlische Versprechen noch, dass Reformen in den Kandidatenstaaten mit Beitrittsgespraumlchen und schlieszliglich der EU-Mitgliedschaft belohnt werden?

Wir haben uns sehr dafuumlr eingesetzt, dass die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien eroumlffnet werden. Es ist nicht gut, wenn waumlhrend des Spiels die Spielregeln geaumlndert werden. Insbesondere Nordmazedonien hatte alle Bedingungen erfuumlllt, und da waumlre es nur fair gewesen, wenn man mit Beitrittsgespraumlchen begonnen haumltte. Aber auch Albanien ist reif fuumlr die Eroumlffnung von Beitrittsverhandlungen.

Aber so kam es nicht. Was nun?

Ich sehe nicht, welche Alternative es in der Region zur EU geben sollte. Die Staaten des westlichen Balkans haben eine kalte Dusche bekommen. Jetzt wird sich zeigen, was ihre naumlchsten Schritte sein werden. Aber Rechtsstaatlichkeit, Stabilitaumlt und Sicherheit, Demokratie und Meinungsfreiheit ndash all das findet sich in gesicherter Form nur in der EU. Manche spekulieren, Serbien zum Beispiel koumlnne sich aus Enttaumluschung Russland zuwenden. Ich glaube, langfristig ist fuumlr Serbien die Orientierung zur EU hin von viel groumlszligerer Bedeutung.

Aber die Frage bleibt, wie die EU und die sechs Staaten des westlichen Balkans ihr Verhaumlltnis zueinander definieren wollen, wenn eine Fortsetzung der bisherigen Erweiterungspolitik politisch nicht mehr durchsetzbar ist.

Ich gebe zu, die Glaubwuumlrdigkeit der europaumlischen Perspektive steht auf dem Spiel. Wir befinden uns in einer Zwickmuumlhle. Aber es ist nicht auszuschlieszligen, dass die franzoumlsische Haltung auch innenpolitisch bedingt ist. In Politik und Diplomatie kommt es oft auf die Wahl des guumlnstigsten Zeitpunkts an, wenn man etwas erreichen will. Das ist ein diplomatisches und politisches Ringen. Im Maumlrz finden in Frankreich Kommunalwahlen statt. Es ist immer moumlglich, dass sich ein Nein zu einem Zeitpunkt in ein Ja zu einem anderen Zeitpunkt verwandeln kann.

Sie glauben, nach den franzoumlsischen Kommunalwahlen koumlnnte Praumlsident Emmanuel Macron ploumltzlich doch dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen zustimmen?

Waumlhrend der kroatischen Ratspraumlsidentschaft im ersten Halbjahr 2020 werden wir jedenfalls nicht nachgeben und versuchen, unsere Freunde in Europa davon zu uumlberzeugen, dass es eine gute Idee ist, Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien zu beginnen. Niemand sagt, dass diese Laumlnder schon morgen oder uumlbermorgen Mitglied der EU werden sollen. Beitrittsverhandlungen sind nicht nur Symbol der europaumlischen Unterstuumltzung fuumlr die Region, sondern sie zeigen den betreffenden Gesellschaften, dass der fordernde Reformprozess auch konkrete Resultate bringt. Unser Ziel ist es, den Laumlndern des westlichen Balkans zu helfen, damit sie die erforderlichen Reformen meistern und die Beitrittsgespraumlche fuumlhren koumlnnen. Das liegt in unserem Interesse.

Kroatiens damaliger Praumlsident Stipe Mesić hat mit einigen anderen Staatschefs der Region schon 2003 angeregt, die Strukturfoumlrdermittel der EU auch Beitrittskandidaten zu gewaumlhren, wenn sie sich durch Reformen dafuumlr qualifizieren. Ist das eine Idee, die Kroatien unterstuumltzt?

Es koumlnnte eine Idee sein, aber es waumlre zu pruumlfen, ob es dafuumlr genuumlgend politische Unterstuumltzung gibt und wie andere EU-Staaten darauf reagieren ndash zumal mit Groszligbritannien ein Nettozahler kuumlnftig wegfaumlllt. Die Kohaumlsionspolitik ist aber fraglos sehr wichtig fuumlr Europa.

Waumlre es denkbar, den Balkan-Staaten Angebote unterhalb der Schwelle einer Vollmitgliedschaft zu machen, etwa die Aufnahme in den Europaumlischen Wirtschaftsraum, an dem ja auch Nicht-EU-Staaten wie Norwegen oder Island beteiligt sind?

Ich kenne diese Idee, befuumlrchte aber, ein solcher Vorschlag wuumlrde in den Laumlndern der Region falsch verstanden. Wenn man den Beitrittsprozess jetzt durch ein voumlllig anderes Prozedere ersetzt, bei dem die EU-Mitgliedschaft als Perspektive keine Rolle mehr spielt, dann weiszlig ich nicht, wie die Laumlnder darauf reagieren. Ich vermute, das wird nicht gut ankommen. Wir leben in der unmittelbaren Nachbarschaft des westlichen Balkans, wir verfuumlgen dort uumlber Expertise und Erfahrungen, weshalb wir alles versuchen werden, um unseren Partnern in der EU zu erklaumlren, warum Beitrittsgespraumlche wichtig sind fuumlr die Region. Auch in der Vergangenheit hatten wir in der EU verschiedene Einschaumltzungen und tiefgehende Diskussionen zu wichtigen Themen. Doch Frankreich war am Ende immer auch ein entscheidender Wegbereiter fuumlr die erfolgreiche Fortsetzung des europaumlischen Einigungsprozesses. Das wird nach dem Ausscheiden Groszligbritanniens umso mehr gelten, weil Deutschland und Frankreich dann noch mehr Verantwortung zufaumlllt. Die Fragen stellte Michael Martens. copy FAZ Intervju dostupan na: https://zeitung.faz.net/faz/politik/2019-11-06/e658337b445f4840c272e38ab8e1584e/?GEPC=s1