- Objavljeno: 30.12.2019.
Intervju ministra Grlića Radmana za Süddeutsche Zeitung
Endlich auf dem Gipfel
Erst seit sechseinhalb Jahren dabei, ist Kroatien das jüngste Mitglied der EU. Nun übernimmt das Land die Ratspräsidentschaft. Es erbt damit ein paar der drängendsten Probleme der Europäischen Union.
Der Stolz wird durch eine Erkältung nicht gemindert. Gordan Grlić Radman rührt viel Honig in den Tee, als er die Pläne seines Landes für die kommenden sechs Monate beschreibt. Eines ist Kroatiens Außenminister aber wichtig: "Als die Berliner Mauer fiel, konnte sich niemand vorstellen, dass wir die Unabhängigkeit erreichen und 30 Jahre später die Ratspräsidentschaft der EU übernehmen werden." Vom 1. Januar an ist es soweit: Sechseinhalb Jahre nach seinem EU-Beitritt führt das jüngste Mitglied ein halbes Jahr lang die Geschäfte in der Union, bevor Deutschland übernimmt.
Vier Prioritäten nennt die Regierung des Christdemokraten Andrej Plenković, und im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung redet Grlić Radman zunächst über "Ein Europa, das einflussreich ist". Das Ziel, "sich für eine führende Rolle der Union in der Welt" stark zu machen, teilt auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Wie oft es bisher an Geschlossenheit mangelt, zeigte sich im Oktober, als die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien von Paris gestoppt wurde.
Kroatiens Außenminister spricht von einer "kalten Dusche" und findet, dass gerade Nordmazedonien "nicht fair und korrekt" behandelt worden sei, da es "alle Bedingungen" erfüllt habe. Lange sei der Namensstreit das einzige Hindernis gewesen, und Skopje sei gelungen, sowohl den Nachbarn Griechenland als auch das eigene Volk zu überzeugen. Es sei im "strategischen Interesse" der ganzen EU, Stabilität in der Nachbarschaft zu haben, weshalb die sechs Westbalkan-Länder eine europäische Perspektive bräuchten. Grlić Radman betont aber auch, dass diese Länder Jahre von einer EU-Mitgliedschaft entfernt seien. Auch deswegen wäre aus "psychologischen Gründen" der Startschuss für Albanien und Nordmazedonien positiv gewesen, sagt der Chefdiplomat. Dies hätte Politikern und Bürgern gezeigt, dass sich Reformen auszahlen - die gesamte Region müsse mehr Wert legen auf Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Dies gelte auch für Kroatien, sagt er selbstkritisch.
In Brüssel spekuliert man, welche Rolle die Kommunalwahl in Frankreich im März für das Nein von Emmanuel Macron spielt, und wie man ihn dazu bringen könnte, auf gesichtswahrende Weise seinen Widerstand aufzugeben. Aber an solchen Gedankenspielen beteiligt sich Grlić Radman nicht. Kroatien möchte als "ehrlicher Makler" vermitteln, und bereits im Januar will Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi eine "überarbeitete Methodologie" vorlegen. Grlić Radman hat noch Fragen an Paris: Sollten neue Regeln nur für Nordmazedonien und Albanien gelten oder würde sich "mitten im Spiel" vieles ändern für Serbien und Montenegro, die schon Beitrittskandidaten sind? Der für den 7. Mai geplante Westbalkan-Gipfel in Zagreb garantiert, dass das Thema auf der Tagesordnung bleibt.
Ihre nächste Priorität nennt Kroatiens Regierung "Ein Europa, das schützt". Neben dem Kampf gegen Terrorismus möchte sie auch Bedrohungen aus dem Cyberspace angehen - und für eine "umfassende und nachhaltige Migrationspolitik" der EU werben. Schon bald dürfte diese festgefahrene Debatte neue Fahrt aufnehmen: Ursula von der Leyen will Anfang 2020 einen neuen "Migrationspakt" präsentieren. Im Dezember reisten ihr Stellvertreter Margaritis Schinas und Migrationskommissarin Ylva Johansson durch Europa, um die Lage zu erörtern. Das Bundesinnenministerium hat eigene Vorschläge vorgelegt, in deren Zentrum die Prüfung des Asylanspruchs an den EU-Außengrenzen steht.
Auch Grlić Radman glaubt, dass eine neue EU-Asylpolitik bei der Sicherung der Außengrenzen ansetzen sollte. Eine Reform der Dublin-Verordnung, die die Verteilung von Asylsuchenden auf die EU-Staaten regelt, sei auch gescheitert, weil niemand auf die große Anzahl an Migranten vorbereitet gewesen sei, die während der Flüchtlingskrise 2015 kamen. Auch das Schengen-System sei in Gefahr geraten, also eine EU ohne Kontrollen an den Binnengrenzen. Kroatien ist bisher nicht Mitglied des Schengenraumes, aber die EU-Kommission hat den Beitritt im Herbst empfohlen. Entscheiden müssen aber die anderen Mitglieder - einstimmig. Kroatien will dies nicht in der eigenen Präsidentschaft vorantreiben, sagt der frühere Grlić Radman: "Wir sind nicht in Eile, aber wenn Deutschland sich dessen im zweiten Halbjahr annehmen könnte, wäre das gut."
Vorwürfe, wonach Grenzschützer seines Landes daran beteiligt seien, Migranten illegal zurück über die Grenze zu drängen, weist Grlić Radman zurück: Kroatische Polizisten seien "streng, aber korrekt". Kritische Berichte - zuletzt schrieb die britische Tageszeitung Guardian über Schüsse auf einen jungen Afghanen an der Grenze zu Slowenien - werden genau verfolgt werden, solange Kroatien an der Spitze der EU und damit im Rampenlicht steht. Gleiches gilt für die Korruption, die laut Transparency International ähnlich verbreitet sei wie in Bulgarien, Ungarn oder Rumänien.
Die Wähler, die bald über eine zweite Amtszeit für Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović entscheiden und 2020 ein neues Parlament bestimmen, treibt noch etwas um: die enorme Abwanderung. Mehr als zehn Prozent der Kroaten haben das Land seit 1991 verlassen, weil es anderswo bessere Chancen gibt; die Einwohnerzahl ist auf etwa vier Millionen gesunken. Grlić Radman begrüßt, dass eine Kroatin, Dubravka Šuica, in der EU-Kommission für "Demokratie und Demografie" zuständig ist. Fördergelder aus Brüssel seien für viele Regionen wichtig, um gerade jungen Leuten Perspektiven zugeben.
Daher fordert Kroatien, so die dritte Priorität, ein "Europa, das sich entwickelt". Folglich solle der mehrjährige Finanzrahmen (MFR) für die Jahre 2021 bis 2027 nicht schrumpfen. Das Ringen um den MFR wird Kroatien jedoch nicht so intensiv beschäftigen wie Vorgänger Finnland, denn EU-Ratspräsident Charles Michel hat das Budget zur Chefsache erklärt. Zagreb könnte also die vierte Priorität vorantreiben: Hinter "Ein Europa, das verbindet" verbirgt sich der Appell, einen einheitlichen europäischen Verkehrsraum zu schaffen. Dazu gehört ein integrierter Energiemarkt und eine gute Dateninfrastruktur.